Dossier: Baustelle Bildung – Folge #4

Wie steht es um die Bildungslandschaft in Österreich? Im Interview analysiert der Generalsekretär der MEGA Bildungsstiftung Andreas Lechner, wo die Probleme liegen.


Andreas Lechner über Bildung
Andreas Lechner: „Ich würde eine Imagekampagne für Pädagogen starten, vor allem für Kindergartenkräfte.“ (© Haeusler)

Obwohl Andreas Lechner als Kleinkind nicht gerne in den Kindergarten ging, entdeckte der gebürtige Steirer seine Leidenschaft für die Bildung schon früh. Dank des Tennis-Leistungssports lernte er Disziplin und Ausdauer. So wurde er nicht nur Schulsprecher des Gymnasiums Hartberg, sondern legte auch beim Studium der Politik- und Wirtschaftswissenschaften Sportgeist an den Tag. Die zwei Universitäts-Kulturen der WU und der Hauptuniversität in Wien sowie das dahinterstehende System, seine Zusammenhänge und Querverbindungen haben Lechner von Anfang an fasziniert. Seitdem ist die Faszination für System-Strukturen und deren Aufbau sein beruflicher roter Faden.

Bildung von morgen. Die MEGA Bildungsstiftung mit Sitz in Wien fördert Chancenfairness im schulischen und außerschulischen Bereich und den Ausbau der allgemeinen Wirtschaftskompetenz. Seit 2019 engagiert sich der Bildungsexperte und Social-Business-Entrepreneur als Generalsekretär in der Stiftung.

WirtschaftDirekt: Gibt es Ihrer Ansicht nach in Österreich Bildungsungerechtigkeit? 

Andreas Lechner: Momentan sehen wir, dass das öffentliche Schulsystem nicht in der Lage ist, die unterschiedlichen Startbedingungen auszugleichen. Die von Geburt an bestehenden Unterschiede werden verstärkt. Oftmals entscheidet der Informationsvorsprung der Eltern, welcher Kindergarten oder welche Schule die richtige ist – und auch ihre Geldbörse. Man darf aber umgekehrt auch nicht die gesamte Verantwortung auf das System auslagern. Schüler und Eltern haben ebenso eine Holschuld am Bildungssystem. Es sollte ein beidseitiges Bemühen stattfinden.

Welchen Rat können Sie benachteiligten Jugendlichen geben, die unsicher sind und nicht wissen, in welche Richtung sie sich entwickeln sollen?

Jugendliche sollten nicht zu sehr unter Druck gesetzt werden. Sie sollten sich mit einem Mentor zusammensetzen. Er zeigt ihnen ihre Möglichkeiten, zum gewünschten Ziel zu kommen, auf. Zum Beispiel, wie man eine passende Lehrstelle oder überhaupt den gewünschten Beruf findet. Oftmals hilft es, Außenstehende wie einen Sindbad-Mentor zu fragen. Sie erkennen Talente und Stärken, die nahestehende Personen oftmals nicht wahrnehmen können.

Die Corona-Krise hat das Bildungssystem vor neue Herausforderungen gestellt. Welche Bilanz ziehen Sie heute vom Distance Learning?

Wir stellen fest, dass einige Schulen einen Digitalisierungsschub vollzogen haben. Bei den Bildungsbehörden und der Politik ist das Thema Digitalisierung angekommen. War das Thema schon vor Corona bekannt, wurde es nun von den Bildungsverantwortlichen als dringend erkannt. In den kommenden Jahren werden sich folgende Fragen stellen: Werden Pädagogen in Ihrer Ausbildung ausreichend auf digitale Formate vorbereitet und ausgebildet? Wie sieht kontinuierliches Lernen im digitalen Raum aus? Welche Inhalte werden in Zukunft digital und welche analog unterrichtet werden müssen? Wie kann man ein derartiges Modell flächendeckend umsetzen?

In einem Standard-Interview vom 28. Mai 2020 haben Sie bezugnehmend auf Pädagogen gemeint, dass der Lehrer „weg vom Wissensvermittler hin zu einem Lernbegleiter und Umgebungsgestalter geworden ist“. Was kann man sich unter einem Umgebungsgestalter vorstellen? 

Ich bin der Überzeugung, dass Raum und Architektur menschliches Verhalten beeinflussen. Es ist ein Unterschied, ob man in einem Klassenzimmer, in dem Sitzbänke nebeneinander gereiht sind, unterrichtet oder ob man Tische zum Beispiel für Teamarbeiten oder Diskussionsrunden in einer anderen Sitzordnung aufstellt. Lässt man digitale Tools zu, unterrichtet man Outdoor besser oder bietet man mehr Praxis an? Das führt uns weiter zum Stichwort Wirtschaftsbildung: Sollte man lieber eine Lernwoche in einem Unternehmen mit guter Vor- und Nachbetreuung einplanen statt Theoriefolien, um einen besseren Einblick in die Praxis zu gewinnen? Es liegt am Pädagogen, diesen Spielraum auszufüllen.

Wie sollte Ihrer Meinung nach das Rollenverständnis des Lehrers sein?

Es sollte ein Zusammenspiel aus Wissensvermittlung und gelebter Leidenschaft für das eigene Fach sein. Es sollte möglichst individuell auf jeden Schüler eingegangen und dafür die Rahmenbedingungen vom System zur Verfügung gestellt werden. Der Lernprozess des Schülers soll von Pädagogen als Mentoren mitbegleitet werden. Umgekehrt sollte der Pädagoge nicht alleinverantwortlich für den Lernerfolg sein, sondern in Zukunft mit einem multiprofessionellen Team daran arbeiten. Diese bestehen unter anderem aus Schulsozialarbeitern, Schulpsychologen, Berufsorientierungsberatern und externen Experten aus der Arbeitswelt. Um diese Teams zu koordinieren, braucht es zusätzliche Ressourcen. So kann sich der Lehrer auf seine eigentliche Aufgabe – nämlich das Lehren – fokussieren.

Hätten Sie bildungspolitischen Gestaltungspielraum, was würden Sie sofort in Angriff nehmen?

Einerseits würde ich eine Imagekampagne für Pädagogen starten, vor allem für Kindergartenkräfte. Der Lehrberuf muss mit gezielten Maßnahmen attraktiver gemacht werden. Es gibt in Österreich mehr Plätze als Bewerbungen für eine Lehramts-Ausbildung. In Finnland kommen auf einen Studienplatz zehn Bewerber, der Staat kann sich die Besten aussuchen. Dort genießen Pädagogen auch gesellschaftlich höhere Anerkennung. Das Selbstbild ist ein anderes. Es gibt in Finnland ein gesellschaftliches Bewusstsein, nachfolgende Generation bestmöglich zu bilden. In Österreich fehlen Anreize und Aufstiegsmöglichkeiten für gute Lehrer. Umgekehrt sollte es aber auch möglich sein, weniger talentierte Pädagogen in andere Berufe wechseln zu lassen.

Sie waren auch politisch aktiv als Landeskoordinator der NEOS in Wien sowie parlamentarischer Mitarbeiter. Warum sind Sie gerade den NEOS beigetreten? 

Eigentlich passierte all das über Umwege. Meinen Berufseinstieg hatte ich 2011 einer Google-Suche mit dem Schlagwort „Organisationberatung“ zu verdanken. So bin ich auf die Beratungsfirma von Matthias Strolz gestoßen. Bei meinem Vorstellungsgespräch sind wir schnell auf das Thema Gründung einer neuen Partei abgeschweift. So wurde ich 2012 der erste Mitarbeiter der NEOS. Folglich bin ich Schritt für Schritt in diese Partei hineingewachsen. In meiner aktiven Zeit habe ich einiges aufbauen können und vieles bewegt. Damals war ich Ende 20 und wollte in der Parteipolitik nicht allzu alt werden. In einer Oppositionspartei gibt es zermürbende Phasen, wenn beispielsweise ein Antrag nach dem anderen abgelehnt wird. Manchmal bleibt zumindest ein Kleinerfolg, wenn ein paar Monate später die Regierung ebendiese Ideen aufgreift. 

Wann kam der Zeitpunkt, neue Wege zu beschreiten?

Nach der Wien-Wahl 2015 war für mich der Zeitpunkt, sich anderen Dingen zuzuwenden. So habe ich mit zwei Partnern 2016 das Bildungs-Start-up Sindbad Social Business gegründet. Wir unterstützen dort 14- bis 15-Jährige, denen der Wechsel von der Pflichtschule in weiterführende Schulen oder Lehren bevorsteht.

Gab es einen speziellen Anlass, Sindbad Social Business zu gründen?

Mit dem Thema Social Business habe ich mich bereits auf der Universität befasst, da ich mich auf Entrepreneurship spezialisiert habe. Die Chancen junger Menschen und ihr Zugang zu Bildung waren mir schon länger ein Anliegen. Die Politik hat mir gezeigt, dass die x-te Bildungsreform nur bedingt wirksam ist. 

Sie sind Generalsekretär der MEGA Bildungsstiftung. Was hat Sie an dieser Aufgabe gereizt?

Ich habe lange überlegt, ob ich Lehrer in einer Schulklasse für 25 Schüler sein möchte oder auf einer systemischen Ebene wirken soll, wo ich an den Rahmenbedingungen für Lehrer und Schüler mitwirken kann. Beides habe ich zum Teil in der Politik, wo es eher abstrakt um die Rahmenbedingungen geht, und bei meinem Social Business Sindbad erlebt. Beides ist wichtig. Bei MEGA sehe ich die Möglichkeit, eine Brücke zu bauen.

Was sind Ihre langfristigen Ziele?

In Zukunft soll unsere Stiftung etablierter werden. Wir sind eigentlich ein Stiftungs-Start-Up, das gerade den Proof of Concept erbringt. Im Sinne von „Was kann man mit philanthropischem Engagement und Geld bewirken?“, „Wie zeigt sich der Erfolg und wie ist er messbar?“. Die Stiftung und ihre zwei Gründerinnen haben auf jeden Fall die Intention, nachhaltig zu wirken. Wir haben jetzt die ersten 28 Bildungsprojekte in unserem Portfolio. Zwei bis drei Jahre sind noch notwendig, damit MEGA sich als ein noch stärkerer Player in der Landschaft etabliert. Mein Anliegen ist es eben, sich auf dieses Ziel zu fokussieren. Wo die Stiftung und ich in 10 Jahren stehen, ist nicht so leicht zu beantworten. Das Leben ist ja voller Überraschungen.

Den Gewinnern werden Helping Hands zur Seite gestellt. Wie kann man sich die Arbeit der Hilfestellung der MEGA Academy mit den Gewinnern vorstellen? 

Den Gewinnern stehen in der MEGA Academy die Teilnahme an Workshops, Expertencoachings sowie Mentoring zu. Die Mentoren sind Sparringpartner während des Wachstumsprozesses. Sie haben einen Blick von außen, den man in seiner täglichen Routine nicht haben kann. Sie beobachten, ob der eingeschlagene Weg richtig ist, zeigen Kooperationsmöglichkeiten auf, auch bei Finanzierungsfragen. Ebenso stellen unsere Mentoren ihr Netzwerk und ihre Kontakte zur Verfügung und ziehen bei Bedarf weitere Experten hinzu.

Was macht einen guten Mentor aus? 

Zuhören ist wichtig! Ein guter Mentor ist keiner, der nur Ratschläge gibt und alles besser weiß, sondern jemand, der sich in die Lage des jeweiligen Mentees hineinversetzten kann. Fragen, zuhören und verstehen wollen. Der Mentor sollte auch Dinge ansprechen, die Kollegen oder Fachexperten nicht sehen. Ein guter Mentor soll sich auch Dinge ansprechen trauen, die neu sind und die vielleicht schmerzen. Mentoren sollen nicht nur punktuelle Ansprechpartner sein, sondern idealerweise den Mentee über einen längeren Zeitraum begleiten. Es braucht ein authentisches Grundinteresse und eine frische Unvoreingenommenheit, sich auch auf den Mentee einzulassen. Deswegen gibt es auch zum Beispiel das Reverse-Mentoring, wo Mentee und Mentor Rollen wechseln. 

Danke für das Gespräch!

Das Dossier Baustelle Bildung soll Denkanstöße bieten, Menschen verschiedener Professionen zu Wort kommen lassen und zur Diskussion anregen. Reaktionen und Kommentare nehmen wir gerne unter redaktion@wirtschaftdirekt.at entgegen. (amg)