Dossier: Baustelle Bildung – Folge #1

Sollte man einen Teil vom Kuchen abgeben? Melisa Erkurt ist Autorin des Bestsellers „Generation haram. Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben“ und Sonderpreisträgerin des Bruno-Kreisky-Preises für das politische Buch des Jahres 2020. WirtschaftDirekt erzählt sie, was sie bewegt, wo die Probleme im Bildungswesen liegen, was verändert gehört und was sie überrascht hat.


Foto: Vedran Pilipovic

Journalistin & Publizistin. Als Kleinkind mit ihrer Mutter vor dem Bosnienkrieg nach Österreich geflohen, hat Melisa Erkurt in der Nähe von Wien maturiert. Nach ihrem Lehramtsstudium für Deutsch, Psychologie und Philosophie hat Melisa Erkurt ein Jahr unterrichtet. Seitdem setzt sie sich mit der Ungleichheit im Bildungssystem auseinander und tritt für Chancengleichheit ein. Sie leitet das Projekt die_chefredaktion.

WirtschaftDirekt: Das Buch „Generation haram“ hat große Aufmerksamkeit bekommen. Was konkret möchten Sie damit bewegen?

Melisa Erkurt: Nach meinem Buch soll niemand sagen: Ich habe nicht gewusst, wie es Kindern aus den unteren sozialen Schichten geht. Ich will die strukturelle Diskriminierung aufzeigen. Die Reaktionen von Betroffenen auf mein Buch, aber auch von pädagogischen Hochschulen, die Lehrveranstaltungen auf mein Buch anpassen und von LehrerInnen, die durch mein Buch etwas geändert haben in den Schulen, zeigen, wie wichtig es war. Wenn sich aber politisch nichts ändert, dann kann auch so ein Buch nichts dazu beitragen. Es ist Aufgabe der Politik, da etwas zu ändern und meine Aufgabe als Journalistin ist, auf den Missstand hinzuweisen. Meine Aufgabe erfülle ich – und die Politik ihre nicht.

Die MEGA Bildungsstiftung fördert die Wirtschaftsbildung und berufliche Chancengleichheit in Österreich mit schulischen und außerschulischen Bildungsinitiativen. Ihr Projekt wurde mit 200.000 Euro gefördert. Wie wurden Sie auf die MEGA Bildungsstiftung aufmerksam?

Die MEGA Bildungsstiftung  achtet wirklich darauf, dass bildungsinnovative Projekte unterstützt werden, die auch weniger privilegierten Kindern helfen. So sind meine KollegInnen und die Geschäftsführung zum Glück darauf aufmerksam geworden und wir konnten in Folge die Jury und auch die Menschen beim Voting überzeugen.

Wie möchten Sie mit dem Projekt die_chefredaktion von Biber Newcomer Network Jugendliche fördern?

Ich gebe ihnen eine Plattform. Der Journalismus ist eine eher akademische Branche. Es gibt kaum Arbeiterkinder, kaum MigrantInnen. Zirka 6 Prozent aller österreichischen JournalistInnen haben einen nicht deutschsprachigen Migrationshintergrund. Bei die_chefredaktion haben wir ein klares Bekenntnis zur Diversität. Ich schaue bei der Auswahl der RedakteurInnen, der PraktikantInnen, dass einfach eine diverse Breite an Menschen vertreten ist. Journalismus muss die Lebenswelt abbilden. Vor allem auch in der Berichterstattung geben wir ProtagonistInnen Raum, die sonst keine Beachtung finden.

Gab es einen speziellen Auslöser für Ihr Engagement oder war es ein schleichender Prozess?

Aufmerksam wurde ich bei der Arbeit mit SchülerInnen im Rahmen des Biber Newcomer Projekts, das jetzt aufgrund von Corona leider pausiert. Da habe ich gemerkt, dass es Schulen und SchülerInnen in Wien gibt, die nicht dieselben Startchancen haben. Ich war ja selber eine von ihnen. Aber damals war mir mein Startnachteil nicht klar. Ich dachte, es liegt an mir und ich muss mich einfach mehr anstrengen, mehr leisten – dreimal, viermal so viel leisten wie Kinder aus Akademiker-Familien. Ich habe gesehen, wie großartig die SchülerInnen sind, wie viel Mühe sie sich geben und dass sie trotz dieser Anstrengung aus diesem System nicht ausbrechen können. Das hat mich eigentlich dazu bewogen, immer wieder auf das Thema aufmerksam zu machen.

Es gibt auch kritische Stimmen Ihnen gegenüber und nicht jeder hat das Buch positiv aufgenommen. Warum denken Sie, dass Sie polarisieren? 

Ich wollte nie polarisieren. Ich kann auch nicht nachvollziehen, dass mich jemand polarisierend findet. Ich sage nur Dinge, wie sie sind – dafür, dass sie so sind, kann ich ja nichts. Wir wissen, dass Bildung in Österreich vererbt wird. Wir wissen, dass soziale Ungleichheit nicht nur nicht überwunden, sondern auch teilweise verstärkt wird. Wir wissen, dass Diskriminierung im Schulsystem gang und gäbe ist. Ich untermale sie mit realen Beispielen und gebe dem Ganzen Gesichter. Das passt vielen Leuten nicht, weil sie sich dann damit auseinandersetzen müssten, dass sie nicht schlauer oder fleißiger als Arbeiterkinder sind, sondern in einem Akademikerhaushalt aufgewachsen sind,  was einen entscheidenden Unterschied macht. Viele wollen sich nicht mit den Vorteilen der eigenen Privilegien befassen. Ich bin weiß und setze mich mit diesen Privilegien auseinander. Ich weiß auch, dass mein Buch vielleicht nicht zu einem Bestseller geworden wäre, wäre ich eine schwarze Frau mit Kopftuch. Das ist auch ein Privileg, das ich immer wieder reflektieren muss. Deswegen verstehe ich überhaupt nicht, warum sich Menschen auf den Schlips getreten fühlen. Aber ich finde, ich muss auch kein Verständnis dafür haben. Wer sich damit nicht auseinandersetzt, wird in dieser Gesellschaft alt aussehen. Vor allem die jüngere Generation sieht das: „Check your privileges“ ist ein Satz, den alle Jugendliche kennen. 

Woher beziehen Sie die Kraft, Dinge verändern zu wollen?

Als Migrantin, Arbeiterkind, Flüchtlingskind, muslimisches Mädchen bin ich es gewohnt, dass ich mich ständig beweisen und für mich kämpfen muss. Sonst macht es nämlich keiner. Ich muss ständig meine Daseinsberechtigung erbringen. Alle überzeugen, dass ich nicht zwangsislamisieren möchte, dass ich „eh“ keine importierte Antisemitin bin und all diese Sachen, die man über Menschen mit meinem Hintergrund hört. Deswegen bin ich mit dieser Kraft aufgewachsen.

Was bedeutet Inklusion für Sie? Sie erwähnen, wir müssen mehr gesamtheitlich denken. Wie kann man das umsetzen? 

Inklusion bedeutet für mich, dass die andere Seite – die Mehrheit der Gesellschaft – einsieht, dass sie MigrantInnen diskriminiert. Wir haben es in Coronazeiten gesehen: Die schlechtbezahlten SystemerhalterInnen waren überproportional MigrantInnen. Die Supermarkt-VerkäuferInnen zum Beispiel. Und es ist kein Zufall, dass sie in diesen Jobs landen. In keinem Wahlprogramm findet man die Bekämpfung von antimuslimischem Rassismus. Der Begriff antimuslimischer Rassismus ist von der Mehrheitsgesellschaft nicht einmal akzeptiert. Denn wenn man das Kind beim Namen nennt, müsste die Gesellschaft akzeptieren, dass wir ein Problem haben. Das würde erfordern, dass wir eine Lösung finden. So weit ist die Mehrheitsgesellschaft noch nicht und deswegen gibt es für mich keine Inklusion. Wenn man in Österreich von Integration spricht, dann meint man in Wirklichkeit Assimilation.

Wie könnte man da einen Wandel herbeiführen?

Die Schule spricht seit Jahrzehnten über Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache. Die Forschung ist so weit, dass man sagt, es sei wichtig, dass die Kinder ihre Erstsprache richtig können. Es ist gut, dass mehr als die Hälfte neben Deutsch noch eine andere Sprache spricht. Mehrsprachigkeit ist ein Gewinn. In Österreich ist es aber nur ein Vorteil, wenn es Englisch oder Französisch ist. Türkisch, Bosnisch und Arabisch werden als nicht-deutsche Erstsprache geführt. Es gibt auch kein wirkliches Bekenntnis der Politik, dass Österreich eine Einwanderungsgesellschaft ist.

Wie sollte Ihrer Ansicht nach Berufsorientierung in der Schule aussehen?

SchülerInnen müssten in mehrere Berufe Einblick bekommen. Vor allem Kinder aus unteren sozialen Schichten kennen nicht viele Berufe. Sie kennen klassische Arbeiterjobs, die ja nicht für alle was sind. Die berufspraktischen Tage gibt es nur einmal und diese finden zu spät statt. Man müsste den Jugendlichen viel früher unterschiedliche Berufe aufzeigen. Externe in die Schulen kommen lassen. Die Kinder kennen oftmals nur den Arbeitsplatz ihrer Eltern. Das sind Beispiele, die man leicht umsetzen kann.

Welches Feedback bekommen Sie von die_Chefredaktion?

Wir werden teilweise von jungen Menschen auf der Straße angesprochen. Es ist schön zu sehen, dass die_chefredaktionBeachtung findet. Wir bekommen aber auch Kritik. Gehörlose weisen uns beispielsweise darauf hin, dass sie sich diskriminiert fühlen, weil wir noch immer keine ideale Untertitel-Funktion gefunden haben. Das ist völlig legitim.

Welchen Eindruck haben Sie vom österreichischen Bildungswesen? Wo sehen Sie den dringendsten Handlungsbedarf?

Man hat die Überwindung der sozialen Ungerechtigkeit nicht in den Mittelpunkt der Bildungspolitik gestellt, sondern sie akzeptiert. Hauptsächlich schaffen Kinder aus gut situiertem Elternhaus, die über Bildungsressourcen verfügen sowie Geld für Nachhilfe haben, den Bildungsaufstieg. Was passiert aber mit den Kindern, deren Eltern sich die Nachhilfe nicht leisten können? Sie scheitern. Kinder, die zuhause beispielsweise keinen Schreibtisch haben, daher die Hausaufgabe im Bett schreiben und schlampig abgeben, werden abgemahnt. Missverständnisse entstehen auch, weil die Lehrerschaft vielfach aus der Mittelschicht stammt, aber die Schülerschaft oft aus der Unterschicht. Aber ich möchte das nicht als systemisches Problem auf die LehrerInnen abwälzen. Es ist vielmehr ein strukturelles Problem. Die LehrerInnen haben im aktuellen System nicht die Möglichkeiten, um weitere Unterstützung zu geben. Sie haben nicht die Zeit, noch einzelne Kinder zu fördern. Das Schulsystem muss viel mehr auf multiprofessionelle Teams bauen. Man könnte zum Beispiel das Modell aus Skandinavien eins zu eins kopieren. Österreich hat eines der teuersten Schulsysteme, aber das Geld wird eher in höhere Schulen gesteckt. 

Welche Probleme sehen Sie in Zukunft auf uns zukommen?

Die Mittel- und Oberschicht ist nicht wirklich interessiert, Macht abzugeben. Wieso sollten die Bildungsbürger der Mittelschicht den Anderen etwas vom Kuchen abgeben? Die Kernfrage ist aber: Wie lange kann dieses Bildungssystem noch funktionieren ohne, dass es zu gröberen Auseinandersetzungen kommt? 

Danke für das Gespräch!

Das Dossier möchte versuchen einen Denkanstoß zu bieten, Menschen verschiedener Professionen zu Wort kommen lassen und zur Diskussion anregen. Reaktionen und Kommentare nehmen Wir gerne unter redaktion@wirtschaftdirekt.at entgegen. (amg)