Dossier: Baustelle Bildung – Folge #2

Was darf ich noch sagen? Lehrer fühlen sich sukzessive entmachtet und zu Begleitern der Kinder degradiert. Autonomes Lernen und Kompetenzorientierung stehen hoch im Kurs. Aber wie sinnvoll ist diese Entwicklung? Schüler sollten von ihren Lehrern nicht nur fachlich ausgebildet werden, sondern am Ende der schulischen Ausbildung auch eine gewisse emotionale Reife erworben haben. Ist das im derzeitigen Bildungssystem überhaupt möglich? Zwei Lehrerinnen beziehen Stellung.


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Lehrerin & engagiert. Alice hat in Österreich Geschichte und Sport an der Universität studiert. Sie unterrichtet als Gymnasiallehrerin an einer Privatschule. Bernadette hat in Österreich und Deutschland Deutsch und bildnerische Erziehung an einer Pädagogischen Hochschule studiert. Sie lehrt an einer NMS. Da beide Repressalien befürchten, wurden ihre Namen von der WirtschaftDirekt-Redaktion geändert.

Warum haben Sie den Beruf der Lehrerin ergriffen?

Alice: Ich arbeite gerne mit Jugendlichen zusammen und es freut mich, Interesse für meine Gegenstände zu wecken. Wenn mir das bei 30 Prozent der Schüler gelingt, habe ich das Gefühl, doch etwas bewirkt zu haben. Ich denke, der Beruf des Lehrers wird unterschätzt. Schließlich formen wir die nächste Generation. 

Bernadette: Ich wollte immer einer Arbeit nachgehen, in der ich meine Leidenschaft zum Beruf machen kann. Und mit Kindern kam ich schon immer gut zurecht.

Wurden Sie im Studium gut auf den Beruf vorbereitet?

Alice: In Sport wird man sehr praxisnahe auf den Unterricht vorbereitet, in Geschichte war das jedoch nicht der Fall. Theorie und Wissenschaftlichkeit des Studiums sind mit dem Alltag in der Klasse nicht kompatibel. Ich kenne einige Kollegen, die nach dem ersten Jahr aufgehört haben, da die Vorstellung mit der Realität nicht übereinstimmte. Durch frühere Praxis könnte man solchen „Drop-outs“ vorbeugen.

Bernadette: Durch die regelmäßige Praxis während der Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule bekommt man ein gutes Gefühl, wie der Unterricht nach dem Studium aussieht.

Inwiefern müssen Lehrkräfte das Elternhaus als Erzieher ergänzen? Ist es problematisch, dass Lehrer keine Disziplinierungsschritte setzen dürfen?

Bernadette: Disziplinierungsschritte werden bewusst durch das System begrenzt. In der Unterstufe ergibt sich eher die Erziehung durch den Lehrer. Dort kann man noch Weichen stellen. Leider ist selbst das Grüßen mittlerweile ein Problem. Viele Eltern denken heutzutage, dass Erziehung überhaupt nicht mehr ihre Aufgabe ist, sondern verlagern diese Aufgabe ganz in die Schule.

Alice: Ich muss dem widersprechen, dass es sich um ein reines Unterstufen-Problem handelt. In der Oberstufe leistet man als Mentor ebenso erzieherische Arbeit. Das beginnt beim „Bitte, Danke“-Sagen oder dass man jemandem bei Sprechen in die Augen schauen sollte und endet beim Ausredenlassen des Gegenübers. Das ist auch im Gymnasium nicht mehr selbstverständlich. Früher war oftmals ein Elternteil zuhause und hat sich auch um die Erziehung der Kinder gekümmert. Durch die Berufstätigkeit von beiden Erziehungsberechtigten sind Kinder häufig in der Nachmittagsbetreuung oder spielen Games vor dem Computer. Es fehlt vielfach die Auseinandersetzung der Eltern mit ihren Kindern.

Empfinden die Schüler Wissen zu erlangen als etwas Positives?

Alice: Durch den Sportunterricht im Freien bin ich mit den Schülern durch Wien spaziert und es war traurig zu sehen, wie wenige Maturanten das Parlament, das Rathaus oder den Heldenplatz kannten. Da gibt es Aufholbedarf. Schüler schätzen das erworbene Wissen oft erst nach der Matura. Da erkennen sie dann, warum sie dieses oder jenes lernen mussten. Vor zwei Jahren hat eine meiner Schülerinnen maturiert und sich jetzt bei mir bedankt. Das war ein schöner Moment.

Bernadette: Durch Corona und den Online-Unterreicht haben Kinder ein besseres Gefühl dafür bekommen, was wir leisten. Durch den Online-Unterricht ist einiges auf sie selbst zurückgefallen, was wir früher aufgefangen bzw. wofür wir einen Rahmen geschaffen haben.

Wenn Sie ein Wunschfach einführen könnten, welches wäre es?

Alice: „Sozialer Umgang“ wäre mir sehr wichtig. In meinem Fach Geschichte ist die politische Bildung ein großes Steckenpferd. Junge Erwachsene sollen lernen, ihren Standpunkt mit Fakten zu unterlegen, Meinungen anderer zu akzeptieren und auch die eigene Meinung zu überdenken. Bei für dieses Alter üblichen Diskussionen stoße ich teils an meine Grenzen. Sie verfügen über keine Frustrationstoleranz und Reife, aus Konflikten zu lernen. Besonders bei Themen mit religiösem Hintergrund fehlt der respektvolle Umgangston. Wenn die Jugendlichen das nicht lernen, wie soll dann ein Zusammenleben in einer pluralistischen Demokratie funktionieren? Ein anderes Fach, das ich für alle AHS flächendeckend einführen würde, ist Wirtschaftskunde. Dieser Gegenstand würde beinhalten, wie man z. B. einen Steuerausgleich macht, welche Versicherungen man braucht, wie man ein Bankkonto eröffnet … Alltägliche Dinge, die man im Leben braucht.

Bernadette: Ich würde das Fach Ethik und soziales Lernen für alle verpflichtend einführen. Ebenso dringend anzuraten ist ein Fach, das aufzeigt, wie man besser miteinander lebt. Wie man in einem demokratischen Gefüge konfliktfrei miteinander lebt. Wir brauchen junge Erwachsene mit einer reifen, entwickelten Psyche. Ansonsten wächst eine Generation heran, die kein Verständnis für friedvolles Zusammenleben und keine soziale Kompetenz hat. 

Was macht Ihrer Ansicht nach gute Pädagogen aus?

Bernadette: In erster Linie muss ein Pädagoge viel Geduld aufbringen, flexibel, aber auch sensibel und empathisch sein. Auch zeitgemäßes Unterrichten mit technischen Utensilien gehört dazu. Es gibt ältere Lehrer, die sich weigern, mit der Zeit zu gehen.

Alice: Zuallererst denke ich, dass ein Lehrer Kinder bzw. Jugendliche mögen muss. Das ist nicht immer der Fall. Manche Lehrer wollen nur den Stoff durchbringen, ohne auf die Schüler einzugehen. Wenn Schüler merken, dass man mit ihnen an einem Strang zieht, dann sind sie gewillt, auch mitzuziehen. Zusätzlich ist ein transparentes Notensystem wichtig. Kinder müssen wissen, wo sie stehen und dass man alle gleich behandelt. Eine große Problematik in der Lehrerschaft sind die fixen Verträge. Dadurch schwindet die Motivation, guten Unterricht zu leisten. Ein engagierter Lehrer bekommt dasselbe Gehalt wie ein Lehrer, der seit 15 Jahren dieselben Folien abspielt. Meiner Ansicht nach fehlen in den jungen Jahren Aufstiegsmöglichkeiten.

Bernadette: Ich sehe das ähnlich und würde es ebenso benennen. Es sollte leichter möglich sein Lehrer, die ihren Beruf unzureichend ausüben, aus dem Dienst nehmen zu können. In der Privatwirtschaft ist das möglich.

Gibt es noch etwas, das Ihnen besonders am Herzen liegt?

Unisono: Chancengleichheit und Bildung sollten nicht nur Theorie sein, sondern auch in der Praxis gelebt werden. Die Gesellschaft wird sich beim gegebenen Bildungskurs weiter spalten und es werden unweigerlich Konflikte entstehen. Das müssen wir überwinden. Es darf keine zwei Gruppen geben: Die, die sich Bildung leisten können und diejenigen, die sich diesen Zugang nicht leisten können.    

Danke für das Gespräch!

Das Dossier Baustelle Bildung möchte einen Denkanstoß bieten, Menschen verschiedener Professionen zu Wort kommen lassen und zur Diskussion anregen. Reaktionen und Kommentare nehmen wir gerne unter redaktion@wirtschaftdirekt.at entgegen. (amg)