Für viele Österreicher/Innen ist „Tschernobyl“ ein Begriff, der so manche skurrile Erinnerungen weckt. Die Iod-Tabletten, die in den Schulen verteilt wurden. Das Verbot, im Sandkasten mit seinen Freunden zu spielen. Selbst die eigens angebauten Tomaten durften nicht verzehrt werden – und das alles „nur“, weil irgendwo ein Kraftwerk explodiert ist.
Andere – wie ich – kennen den Begriff und die damit verbundene Katastrophe nur aus Geschichtsbüchern und Fernsehdokus. Für alle, die erst nach dem 26. April 1986 das Licht der Welt erblickten, ist die Bedrohung durch Atomenergie deutlich weniger greifbar als für jene, die diese Zeit selbst miterlebten.
Spätestens im Geschichtsunterricht trifft man aber irgendwann auf das Wort „Tschernobyl“. Man liest von den tausenden Toten, die das Unglück forderte. Von der Strahlung, die einen großen Teil der Region für hunderte Jahre unbewohnbar macht. Und von der fragwürdigen Informationspolitik, die die UdSSR in Zusammenhang mit dem Unfall forcierte.
Die Ursachen wurden gut aufgearbeitet: Fatale Bedienungsfehler in Zusammenhang mit gravierenden Konstruktionsmängeln der Reaktoren führten während eines Routine-Sicherheitstests zur Explosion des Reaktorblocks 4 im Kernkraftwerk Tschernobyl. Die Fehler waren vor allem menschlicher, aber auch systemischer Natur. Die Konstruktionsmängel waren in Wissenschaftlerkreisen bekannt, den Ingenieuren jedoch, die das Kraftwerk bedienten, wurden sie vorenthalten. Die Folgen wirken bis heute nach: Das freiliegende radioaktive Material, das eigentlich ganze Städte mit Energie versorgen sollte, macht das Gebiet rund um den Reaktor nach wie vor unbewohnbar. Eine weitere, viel gefährlichere Explosion konnte durch den Einsatz von tausenden Menschenleben verhindert werden. Die Welt entging damals der Gefahr einer thermischen Explosion mit einer Sprengkraft zwischen 3 und 5 Megatonnen. Dies hätte nicht nur die komplette Zerstörung von Minsk zur Folge gehabt, sondern auch weite Teile Europas unbewohnbar gemacht.
Schuld sind nur die Dilettanten …
In der Debatte darüber, ob Atomkraft eine sichere Energiequelle ist oder nicht, wurde noch Jahrzehnte später argumentiert, dass hier Dilettanten am Werk waren und sich so etwas nie wiederholen würde. 2011 wurde die Diskussion durch den Unfall im japanischen Fukushima erneut angeheizt. Der Grund waren dieses Mal keine „Stümper“, sondern eine Naturkatastrophe in Form eines Tsunamis. Die Folgen ähnelten jedoch dem GAU von Tschernobyl.
Seit 1986 wurden die Sicherheitsbestimmungen in Kernkraftwerken deutlich verschärft. Und dennoch ortete die IAEA (Internationale Atomenergie-Organisation) 2019 bei einer Untersuchung des slowakischen Kernkraftwerks Mochovce „massive Sicherheitsmängel“ im Reaktor 3. Das Kraftwerk liegt nicht, wie etwa Tschernobyl, 1.000 km von der österreichischen Grenze entfernt, sondern 100 km. Würde es im Kernkraftwerk Mochovce zu einer ähnlichen Katastrophe kommen wie 1986 in der Nordukraine, hätte das nicht nur fatale Folgen für die Slowakei, sondern auch für Österreich und weite Teile Europas. Global 2000 hat in der Vergangenheit schon mehrmals auf die Mängel und die damit einhergehenden Sicherheitsrisiken hingewiesen. Bislang blieben diese Warnungen folgenlos. Denn ein Unfall, sagen die Betreiber, sei natürlich auszuschließen.
(K)ein Kapitel für die Geschichtsbücher
Nein, ich habe Tschernobyl nicht erlebt. Kenne Fukushima lediglich aus dem Fernsehen. Und kann nur erahnen, was es für die Menschen, die direkt von einer Atomkatastrophe betroffen sind, bedeutet. Ich möchte es auch niemals erfahren. Denn Atomkraft ist ein Kapitel für die Geschichtsbücher. Oder vielmehr: sollte es längst schon sein. Auf der ganzen Welt werden tagtäglich neue innovative und nachhaltige Methoden zur Energiegewinnung entwickelt, die keineswegs die Gefahr eines nuklearen Fallouts bergen.
Trotzdem setzen viele Staaten weiterhin unbeirrt auf Atomkraft. Oft werden wichtige Sicherheitsmaßnahmen zugunsten von Baufortschritt und Kostenersparnis über Bord geworfen. Es ist nur eine Frage der Zeit bis zum nächsten Supergau. Tschernobyl hat der Menschheit die hässliche Seite der Atomkraft gezeigt und sie als Hochrisikotechnologie entlarvt. Die Lehren, die aus der Reaktorkatastrophe von 1986 gezogen wurden, sind, wie das Kernkraftwerk Mochovce zeigt, leider überschaubar. Fukushima hat uns eine weitere Lektion erteilt – nämlich, dass die fähigsten Mitarbeiter und besten Sicherheitssysteme nutzlos sind, wenn Naturgewalten zum Atomdesaster führen. Wieder nichts gelernt. Menschheit: setzen, Minus.
Wie viele Katastrophen brauchen wir noch? Ich für meinen Teil möchte Iod-Tabletten weiterhin nur aus den Erzählungen der älteren Generationen kennen. Ich will, dass mein potenzieller Nachwuchs unbedarft in der Sandkiste spielen darf und Atomkraft im Geschichtsunterricht kennenlernt. Was es braucht, ist ein Schlussstrich unter diesem Kapitel der Menschheitsgeschichte und mutige Lösungen für eine nachhaltige und umweltfreundliche Stromerzeugung.